Storytime: Der Umzug nach London

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„Wollen wir nach London ziehen?“

„Okay.“

So ähnlich kurz und knapp lief es ab, als meine Eltern beschlossen, mit ihrem Einzelkind im Schlepptau nach England auszuwandern. Ich war damals noch keine zehn Jahre alt und meine Horizonte beschränkten sich auf drei Berliner Kindergärten, eine Berliner Grundschule, eine Leipziger Grundschule und die 5. Klasse eines Leipziger Gymnasiums. Ich war ein unsicheres Kind, immer ein bisschen am Rande des Geschehens, immer ein bisschen die Außenseiterin in der Klasse. Anstatt die Bravo zu lesen, wie die anderen Mädchen, ging ich nach der Schule in den Nähladen und kaufte Knöpfe, weil ich sie hübsch fand und in einer kleinen Tasche sammeln wollte. In meiner Freizeit sang ich im Kinderchor der Oper, war die wohl beste Besucherin der Stadtbibliothek und dachte mir allerlei Geschichten aus. Sommerferien verbrachte ich in Warschau, bei meiner Babcia, meinem Dziadek und ihrer bedingungslosen, großelterlichen Liebe. Ich war schon immer ein kleines Sensibelchen, das sich nie richtig an einen einzigen Ort binden konnte.

Irgendwann kannte ich die typische Leier meiner Eltern: „Wir ziehen um.“ Nach dem x-ten Umzug war es nichts Neues mehr und auch vor dem Umzug nach London durchfuhren mich keinerlei bedauernde Gedanken. Ich war dankbar für eine neue Fluchtmöglichkeit, die Chance, woanders neu zu starten. Diese Rituale, mich in einer Stadt neu zu definieren, ziehen sich durch mein gesamtes Leben und besitzen jedes Mal einen gewissen Zauber.

Doch auch in London war ich das unsichere, viel zu sensible Mädchen. Diesmal kam noch hinzu, dass mir jegliche Sprachkenntnisse fehlten, ich die Melodie von „head and shoulders, knees and toes“ hätte singen können und viel mehr auch nicht. Meine Mutter brachte mich dazu, jeden Tag nach der Schule Grammatik zu pauken, doch mein größter Antrieb war, die vielen bunten Kinder- und Jugendbücher endlich lesen zu können, die mich in den Buchläden anstrahlten. Eine völlig neue Welt eröffnete sich: In Deutschland hatte ich den Juwel „Die unglaubliche Geschichte der Tracy Baker“ entdeckt – nur um in England zu erfahren, dass die Heldin dort erstens Tracy Beaker hieß, es zweitens eine gesamte Reihe über sie gab und drittens, sogar eine Fernsehserie! Nicht nur das; die Autorin Jacqueline Wilson hatte etliche weitere Bücher geschrieben, die nicht ins Deutsche übersetzt waren. Ich konnte mein Glück kaum fassen und lernte Englisch fast schon nebenbei, in der gierigen Vorfreude, diese genialen Bücher endlich zu verschlingen.

Bildergebnis für the story of tracy beaker
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Story_of_Tracy_Beaker

Fun fact: Im Alter von elf Jahren, als es an der Zeit war, von der Primary School auf die Secondary School zu wechseln, kam ich zufälligerweise auf dieselbe Schule, auf der die Autorin Jacqueline Wilson gewesen war: Die Coombe Girls‘ Secondary School (die mit Abstand beste Schule, auf der ich jemals war). Dort waren unsere Schulklassen nicht nach Buchstaben, sondern nach Autoren benannt. Es gab die 7 Austen (Jane Austen), 7 Wilson (Jacqueline Wilson), 7 Lewis (C. S. Lewis), 7 Dahl (Roald Dahl) und einige mehr. Ich habe mich an dieser Schule sehr entfaltet, Unmengen gelesen, fast genauso viel geschrieben und Anerkennung dafür von meinen Lehrerinnen bekommen. Alles machte dort Spaß und es waren die einzigen zwei Jahre meiner Schulzeit, in der ich am Wochenende ungeduldig darauf wartete, wieder in die Schule zu können.

Bücher hatten schon immer einen riesigen Stellenwert in meinem Leben. Als Einzelkind, bei neun Umzügen in dreizehn Jahren, waren Bücher die treusten Begleiter, die ich mir wünschen konnte. Durch sie habe ich mich verstanden gefühlt, mich weitergebildet, Sprachen gelernt, gelacht, geweint, starken Mitteilungsdrang verspürt, Wut und Frust empfunden, Zeit vertrieben, mich unterhalten, abgelenkt und entspannt. Und vor allem haben sie mir durch die turbulentesten Zeiten in meinem Leben geholfen.


Was bedeuten Bücher für dich?

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