„Das wirkliche Leben“ von Adeline Dieudonné

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„Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt. In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.“

Plötzlich war dieses Buch überall. Ich las eine Rezension nach der anderen und war mir sicher: Das ist genau das richtige Buch für mich. Düster, intensiv und verstörend entblättert sich die Geschichte der namenlosen Protagonistin, die gleich zu Beginn zusammen mit ihrem Bruder ein Trauma erleidet. Das wirkliche Leben von Adeline Dieudonné ist keine Wohlfühllektüre, aber ein Buch, das absolut süchtig macht, einen gleich auf den ersten Seiten packt und bis zum Ende nicht mehr loslässt. In den Klauen dieser Geschichte gefangen, verbrachte ich einige Stunden auf dem Sofa und verschlang sie wie in einem Rausch. Die Umrisse meiner Welt verschwammen und ich lebte in der Realität, die Adeline Dieudonné in diesem Buch entworfen hat.

Zunächst fiel mir auf, dass dieser Roman in einer ganz besonderen, eigenen Erzählstimme geschrieben ist. Schnell hatte ich das Gefühl: dieses Buch ist etwas Besonders. Ich habe von Vergleichen mit Mein Ein und Alles von Gabriel Tallent und Gun Love von Jennifer Clement gelesen – und während ich in etwa verstehe, woher diese Einschätzungen kommen, spielt Das wirkliche Leben meines Erachtens in einer ganz anderen Liga. Die Geschichte wird getragen von der grandiosen Protagonistin, die im Laufe des Buches von einem Kind zur Jugendlichen wird, und in schrecklichen Verhältnissen aufwächst, die ihrem wachen Geist und ihrer Neugier an der Welt kein bisschen gerecht werden. Doch sie weigert sich, in die Opferrolle zu schlüpfen, sich als Beute ihren Umständen hinzugeben. Wenn wir schon bei Vergleichen sind, musste ich manchmal an Roald Dahls Matilda denken, eins meiner liebsten Bücher aus der Kindheit, in denen ein überdurchschnittlich begabtes, lernwilliges Mädchen ihrer hinderlichen, destruktiven Familie zu entkommen versucht. Das wirkliche Leben hat einen ebenso ermächtigenden Charakter, nur ist es definitiv kein Buch für Kinder.

Doch trotz schwerwiegender, brutaler Themen und Gewaltszenen, die mich teilweise schwer schlucken ließen, liest sich der Roman erstaunlich locker und fließt schnell dahin – was vielleicht auch an dem Tempo liegt, das man beim Lesen zwangsläufig einnimmt. Ich bin begeistert von diesem Buch und ein großer Fan starker Protagonistinnen, und bin mir jetzt schon sicher: Dieses Buch wird unter meinen Jahreshighlights sein.

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben. dtv Verlag. ISBN: 978-3-423-28213-0. 240 Seiten. 18,00€.

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