Mein Lesepensum ist nicht mehr so hoch wie in vergangenen Jahren, aber in den letzten sechs Monaten hatte ich hier und da Momente, in denen ich genau zum richtigen Buch gegriffen habe. Die richtigen Bücher zur richtigen Zeit, quasi. Genau das ist für mich das allerschönste am Lesen: abgeholt zu werden, in einen Text einzutauchen, der Gefühle oder Gedanken, die mir vertraut sind, in treffende Worte fasst, oder einfach in andere Realitäten zu schlüpfen, auf neue Gedanken kommen. Das haben folgende fünf Bücher dieses Jahr für mich bewirkt:
1. Yellowface von R. F. Kuang
Zuletzt beendet, ist Yellowface wohl auch mein größtes Highlight bisher in diesem Jahr. Der Roman wird erzählt aus der Perspektive von June Hayward, die sich nach dem Tod ihrer Freundin und Rivalin Athena deren Roman aneignet und ihn als ihren eigenen veröffentlicht. Yellowface ist nicht nur ein wahnsinniger pageturner, der unheimlich viel Spaß zu lesen macht und ordentlich Fremdscham auslöst. Er stellt auch spannende Fragen nach kultureller Aneignung, Identität und beleuchtet Rassismus auf eine satirische, plakative Art und Weise. Die Protagonistin ist absolut unzuverlässig und weiß ihre Entscheidungen stets vor sich zu rechtfertigen, was für ein Leseerlebnis sorgt, das zum Beziehen einer eigenen Stellung zwingt. Super gut!
2. The Culture Map von Erin Meyer
Ich bin zwischen zwei Kulturen aufgewachsen, oft umgezogen, arbeite in einem internationalen Verlag und hatte allgemein schon immer viel mit Menschen aus anderen Ländern zu tun. Eine Kollegin hat mir vor einiger Zeit The Culture Map empfohlen, indem es darum geht, wie unterschiedlich Arbeit wahrgenommen werden kann, je nach Kultur. Die verschiedensten Themen werden beleuchtet und Länder in spannende Diagramme eingeordnet: Wie wird Kritik geäußert? Und wie am liebsten empfangen? Wie viel Hierarchie ist man gewohnt, und für wen sind solche Strukturen möglicherweise völlig abschreckend? Wann wird ein Meeting als „erfolgreich“ angesehen? Welche Missverständnisse können entstehen? Ich habe das Buch mit sehr viel Interesse und Gewinn gelesen.
3. Frei von Katharina Höftmann Ciobotaru
Katharina Höftmann Ciobotaru hat mich schon mit ihrem Roman Alef sehr begeistert. Nun ist ihr zweiter Roman beim Ecco Verlag erschienen, kürzer und anders in der Thematik – es geht ums Muttersein und ums Tochtersein, über Beziehungen und über Welten, die aufeinanderprallen. Frei ist ein kurzer Roman, der mich genau im richtigen Moment erwischt hat. Und mal wieder bin ich beeindruckt, wie klug und präzise die Autorin komplexe Gedanken und Gefühle in Worte kleidet. Ich konnte ihm sehr viel abgewinnen, mich darin wiederfinden und freue mich auf alles Weitere!
4. Morgen, morgen und wieder morgen von Gabrielle Zevin
Wenn ein Buch Preise ohne Ende abgeräumt und damit für Schlagzeilen gesorgt hat, dann dieses. Es geht um Videospiele – eigentlich kein Grund für mich, das Buch genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Gegenteil: „Das ist bestimmt nichts für mich“, dachte ich lange. Bis ich um die positiven Instagram-Rezensionen nicht herumkam und die Neugier doch überhand nahm, spätestens als ich las, dass es wohl gar nicht wichtig sei, Videospiel-affin zu sein. Kurze Zeit später war das Buch in meinem Besitz und ich mittendrin. Morgen, morgen und wieder morgen ist eine tolle Geschichte über Freundschaft, Liebe und Erfolg, die sich sehr bildhaft und zügig liest. Eine Szene fand ich etwas zu konstruiert, aber ich mochte die Charaktere, die sehr authentisch gezeichnet werden sowie die Originalität der Thematik.
5. One True Loves von Taylor Jenkins Reid
Was wäre eine Highlight-Liste ohne Taylor Jenkins Reid? Ich habe kürzlich eins ihrer älteren Bücher gelesen, das schon mit diesem großartigen Satz beginnt: „I am finishing up dinner with my family and my fiancé when my husband calls“. Danach bin ich quasi durchgerast. Ich liebe Reids Schreibstil einfach, liebe es, wie scheinbar mühelos sie ihre Charaktere zum Leben erweckt. Doch ich mochte nicht alles an diesem Buch – ein bisschen unrealistisch perfekt fand ich die beiden Männer, die zentral sind in dem Roman, und die Geschichte zu gewissen Teilen ein wenig kitschig. Dennoch – lässt man sich darauf ein, macht One True Loves eine Menge Spaß. Und ich freue mich, dass ich noch andere Bücher von Taylor Jenkins Reid vor mir habe.
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